Beruf + Berufung: «Denken ist meine Nahrung, Probleme lösen mein Jungbrunnen»

from Mathias
9.11.2021

Frau Urbach, Ihr Alter ist ein gut gehütetes Geheimnis, aber es heißt, Sie seien mit über 80 Jahren noch täglich in Ihrer Firma in Dübendorf anzutreffen.

JACQUELINE URBACH: Ja, natürlich, soll ich etwa zuhause in einem Sessel sitzen und darauf warten, dass ich alt und gebrechlich werde? Ich fühle mich wie 50, Denken ist meine Nahrung, Probleme lösen mein Jungbrunnen. Heute habe ich den kreativsten Job, den ich mir vorstellen kann. Es ist fantastisch, was man alles lernt, wenn man ins Online-Business einsteigt. Da verschwendet man keinen Gedanken ans Aufhören. Ich habe mein Leben lang immer meine Hobbys zum Beruf gemacht. Deswegen ist die Arbeit keine Pflicht, sondern eine natürliche Existenzform für mich.

Das war damals bei Ihrer Berufswahl noch keine weit verbreitete Haltung. Warum sind Sie Optikerin geworden in den 1950er-Jahren?

Ich hatte ganz andere Träume, wäre gerne als Regisseurin zum Theater oder noch lieber zum Film gegangen. Meine Mutter machte mir aber klar, dass das ein Hungerberuf für Taugenichtse sei und ich besser etwas Richtiges lerne. Sie empfahl mir, eine Optikerlehre in Angriff zu nehmen – und damals machte man, was die Eltern rieten. Für mich war es kein Vergnügen, eher eine Pflichtveranstaltung. Ich wusste schon früh, dass ich Unternehmerin werden wollte. Meine Eltern betrieben in Zürich im Kreis 4 einen Kleiderladen und hatten mir beizeiten beigebracht: «Lieber isst du nur trockenes Brot und bist selbständig, als angestellt zu sein und ein Butterbrot zu essen.»

Hat Sie dieser Glaubenssatz veranlasst, im Alter von 24 Jahren in die USA auszuwandern?

Nein, ich wollte Englisch lernen, das gehörte sich einfach. Die USA lockten mich mehr als England, auch weil ein Onkel dort lebte. Die ersten drei Jahre in New York waren hart. Ich arbeitete fast pausenlos und war dennoch nahe am Verhungern. Nach drei Jahren dachte ich: Wenn schon verhungern, dann lieber an der Sonne. So lernte ich in drei Stunden Autofahren und fuhr schließlich in 10 Tagen von New York nach Los Angeles. Dort bin ich mit 300 Dollar angekommen – und gründete 1959 mit 4000 Dollar meine erste Firma. Mein Onkel hielt das für sehr unvernünftig, aber ich war jung und neugierig und dachte keinen Moment daran, was alles schief gehen könnte. Wenn du nichts hast, kannst du auch nichts verlieren.

Not macht wirklich erfinderisch?

Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht. Meine Eltern waren nicht wohlhabend und zudem sehr praktisch veranlagt. Zum Geburtstag gabs Strümpfe oder einen Pullover, kein einziges Mal etwas zum Spielen. Also war ich gezwungen, mir meine Spielsachen selber auszudenken und zu basteln. Ich erinnere mich an Kasperli-Figuren, die so entstanden sind. Ich organisierte Vorstellungen bei uns, kassierte 20 Rappen pro Eintritt, ein erstes Taschengeld. Von da an habe ich mich immer nach der Decke gestreckt.

Wie gelang es Ihnen, die 4000 Dollar Startkapital zu vermehren?

(Lacht) Erst einmal verwandelten sich diese 4000 Dollar in 20‘000 Dollar Schulden. Anfänglich verkaufte ich Brillen, dann kam ich mit den Pionieren der Kontaktlinsen-Entwicklung in Kontakt und war sofort begeistert vom Potenzial dieser Sehkorrekturen. Ich kaufte vom übrig gebliebenen Geld eine Drehbank und bastelte drei Monate lang praktisch Tag und Nacht, bis ich etwas Kontaktlinsenähnliches vor mir hatte. Ich kann unglaublich stur und ausdauernd sein, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe – das ist vielleicht die wichtigste Gabe, die der Liebe Gott mir geschenkt hat. In der Folge brauchte ich zwei Tage, um eine Linse herzustellen, aber der Aufwand lohnte sich, denn die Optiker liebten meine Produkte. So gelang es mir dank den harten Kontaktlinsen, das Geschäft auszubauen und 15 Mitarbeiter anzustellen. Gegönnt habe ich mir nichts – jeder Cent wurde reinvestiert.

Und wie kam die Farbe ins Spiel? Sie gelten heute als Erfinderin der farbigen Kontaktlinsen?

Das habe ich einer schicksalhaften Begegnung im Jahr 1966 zu verdanken. Eines Tages sah ich eine Frau mit wunderschönen braunen Augen. Ich musste mehrmals hinschauen, um zu verstehen, was diese braunen Augen so besonders machte. Auf der Iris gab es zwei winzige gelbe Flecken, die wie goldene Pünktchen aussahen. Dieses Glitzern in den Augen liess mich nicht mehr los. Es erinnerte mich an den Glimmer, den Stars und Sternchen bei besonderen Anlässen auf den Augenlidern trugen. Ich war wild entschlossen, die Goldpigmente in meine Linsen einzubauen. Schon die ersten Versuche brachten spektakuläre Resultate. Ich war euphorisiert, weil ich spürte, dass ich mit dieser Innovation einen gewaltigen Tiger am Schwanz hielt, wie die Amerikaner sagen. So experimentierte ich weiter, mit Blau, Grün und Violett, machte viele Testserien und ließ die Erfindung patentieren. Doch dann kam etwas Anderes dazwischen.

Unter Langeweile haben Sie bis heute nie gelitten oder?

Kennen Sie die Geschichte der jungen Frau, die vom Deck eines Luxusdampfers in die Wellen fiel? Plötzlich hörte man den Ruf «Mann über Bord» und alles blickte aufs Meer hinaus. Weit draußen konnte man jemanden erkennen, der gegen die Wellen ankämpfte und dem es schließlich gelang, die junge Frau zu retten. Es zeigte sich, dass der Lebensretter ein kleiner, alter Mann war, während die junge Frau sich als einzige Tochter eines reichen Königs herausstellte. Als dieser dem Lebensretter großmütig einen Wunsch erfüllen wollte, antwortete der alte Mann: «Ich möchte nur wissen, wer mich ins Wasser gestoßen hat.» Mir ging es ähnlich: Ich fand mich stets von Neuem im Wasser wieder und musste dann schwimmen, um zu überleben. Jedenfalls musste ich das Projekt Farblinse zurückstellen, weil in dieser Zeit die weichen Linsen aufkamen und das Verkaufspotenzial dort wesentlich größer war. Also stürzte ich mich für die nächsten Jahre in die Entwicklung des weichen Linsenmaterials.

Haben Sie nie gedacht, das könnte Ihre Möglichkeiten übersteigen?

Damals noch nicht. Ich hatte zwar keine Ahnung von Chemie, aber ich holte mir in der Bibliothek zehn Bücher, die sich mit der Herstellung von Plastik befassten. Nach und nach richtete ich mir ein eigenes Labor ein, mit Destillations-Anlage, Vakuumofen, Waage, Trichter und vielen anderen Gerätschaften. Ist es nicht unglaublich, wie viel der Mensch in kürzester Zeit lernen kann, wenn er ein Ziel vor Augen hat? Ich arbeitete während Monaten 16 Stunden pro Tag und hatte eines schönen Tages eine erste eigene weiche Kontaktlinse vor mir. Als ich sorgfältig daran zog, brach sie aber sogleich entzwei. So musste ich nochmals von vorne beginnen – und ahnte in diesem Moment nicht, dass die wirklichen Probleme erst noch bevorstanden.

Fortsetzung des Interviews in einer Woche an dieser Stelle.